29. Der Abend und die Nacht.
O herrlicher Abend, wie schön und wie mild
Ist heute dein purpurgold'n strahlendes Bild!
So sollst du dem müden Erdwand'rer stets kommen,
Wann er hat den Lebenspfad mühsam durchklommen.
Wie schön hinter Bergen die Leuchte noch strahlt,
Die Mutter des Tages, wie herrlich sie malt!
Die Wölkchen im rosigen Golde da prangen,
Und wecken nach Dort in mir heißes Verlangen!
O Abend, o Abend, wie schön bist du doch,
Du gold'ner Befreier vom irdischen Joch!
Dir folgt zwar die Nacht - als Schatten der Erde,
Des Todes verwandter, getreuer Gefährte.
Doch so nenn' die Mutter der Ruhe ich nicht;
Denn mir gab ihr Schooß noch stets reichliches Licht!
Wie viele der Sonnen hat mein Aug' da erschauet,
Wie oft ihr Glanz meinen Geist tiefest erbauet;
Darum ist die düstere Mutter gar hold,
Und ist allen Müden ein herrlicher Sold.
Ihr Sternengewand - das soll uns nicht schrecken,
Vielmehr soll's in uns die Begierd' nur erwecken,
Zu schmücken gleich ihr uns mit Demuthsgewand,
Verachtend, wie sie, allen farbigen Tand,
Der oft wohl den irdischen Sinn kann berücken,
Doch niemals in Wahrheit den Geist mag entzücken.
Das kann nur die herrliche schimmernde Nacht;
Sie ist für das Bess're im Menschen bedacht!
Darum pflegt der Abend zur Freud' mich zu stimmen;
Mit ihm kann den Tempel der Ruh' ich erklimmen,
Und diese giebt mir in gar festem Volltrau'n
In's Herz, auf den Schöpfer gar gläubig zu bau'n.
D'rum ist auch meist gar so herrlich der Abend,
Das Herz und den Geist gar so himmlisch oft labend,
Weil er mir als Vorbot' zur Ruh' giebt den Wink,
Und zeigt mir die Dinge, an denen ich hing,
Wie nichtig und werthlos da ist all' ihr Wesen;
Sie können mich nicht von dem Tode erlösen,
Wohl aber kann Solches die nächtliche Ruh',
Sie führt uns durch Träume dem Geistigen zu,
Dem geistigen Leben, das tief liegt verborgen
In uns, wie in Nacht der neuwerdende Morgen.
Wer hat nicht schon oft in den Träumen geschaut,
Daß er dann am Tag' kaum den Sinnen getraut,
Ob das, was im Traun er so hell hat gesehen,
Nicht etwa in Wirklichkeit so möcht' bestehen?
Und wahr, die Vermuthung ist hier nicht so leer,
Das Schauen im Traume das ist wohl gar hehr;
Es ist ja das Schau'n mit unsterblichen Augen,
Wozu uns're fleischlichen nimmermehr taugen;
Darum ist wohl herrlich die nächtliche Ruh',
Sie führt uns auf Stunden dem Heimlande zu,
Das tief, ja sehr tief in uns lieget begragen,
Bis uns wird der geistige Morgen ertagen! -
Und so will ich loben den Abend, die Nacht;
Sie haben mich näher dem Geist'gen gebracht.
Wie oft hab' ich müssen gar kummervoll ringen
Nach jenen heimathlichen geistigen Dingen,
Der Abend, die Nacht haben mir es gezeigt,
Wie tief sich die Heimath in uns hinein beugt,
Darum ist der Abend, die Nacht mir so theuer,
Sie zeigten zuerst mir des Heimlandes Feier! -
[PsG.01_029]