61. Zwei Ströme wie Mur und Drau.
Eine Ode.
(J. L. am 11. Juni 1843.)

Es tropfet und perlet vom Felsen herab;
Auf die dampfende moorige Trift
Fällt ein ewiger Regen in dumpfem Geplätscher
Und gähnende Klüfte die saugen
Mit brennender Gierde die fallenden Tropfen
Hinab in den finsteren Grund.

Im finsteren Grunde sich sammelnd zur Fluth,
Brausen Orkanen gleich in der Nacht
All' die zahllosen Tropfen, es bebet der Boden;
Es dröhnet der Nachhall gar schaurig,
Die dichten und mächtigen Wälder hindurch,
Von dem Sturze der Fluthen gezeugt!

Herab über Felsen und schaurige Wänd'
Stürzen donnernde Bäche ins Thal,
Und die Bäche, sie kommen aus finsterem Grunde,
In den sie als Tropfen gelangten;
Im Thale sie ruhiger werden und sanfter,
Im ebneren, freieren Bett.

Da murret der Bach durch das wogige Thal
Und es rauschen in seinen rollenden Schooß
Andre muntere Brüder voll bebender Lust
Und vereinen sich treulichen Bundes
Zu einem gar mächtigen wogenden Strome,
Der dann ferne Gebiete durchzieht.

Doch wie da ein mächtiger Strom hehr entspringt
Einem schaurigen felsigen Ort,
Auch ein anderer mächtiger Bruder erscheinet,
Nach seinem Erscheinen stets mächtiger
Wird, und durchziehet gleich seinem Gefährten
Ein weites gedehntes Gebiet, -

Und wie da zwei mächtige Feldherrn es thun,
Also thun's auch die wogenden Ström';
O es treibt sie gar mächtig stets näher
Zu kommen auf offenem Felde!
Nicht lange, sie stoßen zusammen voll Freude
Zu einer gar mächtigen Fluth.

Da werden sie kräftig und groß in der Macht
Und es freut sich der steuernde Mann
Auf der mächtigen wogenden Fläche von Herzen,
Zu lenken sein lustiges Schiff
Ohne Sorg' und Gefahr auf der mächtigen Fluth
Hin ans lohnende winkende Ziel.

Also auch im Menschen zwei Ströme entsteh'n,
In dem Geiste der Eine voll Kraft,
In der Seele der Andre voll Muth, auch voll Zagen;
Sie strömen oft lange vereinzelt
Und können einander nicht rathen und helfen
In ihrem geeinzelten Sein.

Doch werden am Felde der Liebe sie Eins,
An der Mündung des Lebens voll Kraft;
Dann auch schifft sichs sorglos und frei in die Ferne
Des Lebens im Lichte aus Gott!
Ja in ewige selige Fernen des Lebens,
Ins Leben voll Liebe und Licht.
[PsG.01_061]